Digitalisierung
25.01.2021
Unser analoges Hirn in digitalen Zeiten
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Ob selbstverständliche Standards oder neue Angebote zu virtuellem Teamwork oder digitales Arbeiten im Homeoffice: Was macht das mit unserem Gehirn?
Gehirn 4.0
Ob selbstverständliche Standards oder neue Angebote zu virtuellem Teamwork oder digitales Arbeiten im Homeoffice: Was macht das mit unserem Gehirn? Droht uns die „digitale Demenz“? Bekommen wir die Digitalisierung und unser Steinzeithirn zusammen?
Die Antwort gleich vorneweg: Ja, es kann funktionieren. Wenn wir erst unser Gehirn einschalten und dann unsere digitale Welt betreten.
Das Rad zurückdrehen möchte niemand. Was bleibt, sind wichtige Fragen: „Wie gehen wir am besten mit Digitalisierung um, damit wir davon profitieren können?“ und „Gibt es die Möglichkeit, nicht trotz, sondern durch digitale Tools schneller, konzentrierter – und ausgeglichener im Sinne der Work-Life-Balance – zu sein?“ Dieser Beitrag soll den Einfluss der Digitalisierung auf das Gehirn – aus neurowissenschaftlicher Sicht – beleuchten.
Der Übergang von der analogen in die digitale Welt ging rasant vor sich. 1969 war die Geburtsstunde des Internets, 2003 gilt als Startpunkt des digitalen Zeitalters. Damals gab es geschätzt mehr Daten im digitalen als im analogen Format. Schließlich Google, der Touchscreen am I-Phone, Messenger-Dienste wie WhatsApp und jetzt autonom fahrende Autos, 3-D-Druck und Alexa. Die Digitalisierung macht vor keinem Bereich halt. Und die meisten von uns haben die digitalen Vorzüge längst in ihr Leben integriert. Ob Basics wie Telefonspeicher, Navi oder Kalender im Smartphone – das Leben ist bequemer geworden. Wir müssen uns nichts mehr merken, weil wir alles ständig dabei und griffbereit haben.
Gehirn-Basics
Kommt unser Hirn als zwei Millionen Jahre altes analoges Steinzeitgebilde überhaupt mit der Digitalisierung zurecht? Dazu ist es wichtig, einige Basics zu kennen: Prinzipiell ist das Gehirn extrem wandelbar und anpassungsfähig. Es ist zu grandiosen Leistungen fähig, wenn es richtig benutzt wird. Essenziell dafür ist die Grundversorgung: Ausreichend Getränke über den Tag verteilt und eine ausgewogene Ernährung bilden die Basis für einen konzentrierten und fokussierten digitalen Alltag.
Funktioniert unser Gehirn gut, schüttet es Botenstoffe und Hormone in den richtigen Maßen aus: Serotonin sorgt dafür, dass wir uns wohl fühlen und guter Stimmung sind. Wenn wir ins Tun kommen wollen, brauchen wir Dopamin, dessen Ausschüttung unter anderem durch Bewegung angeregt wird. Glückshormone, sogenannte Opioide, folgen, sobald wir ein Ziel erreicht haben. Deren Wirkung verpufft allerdings rasch. Dann benötigen wir wieder Dopamin, um ein neues Vorhaben anzugehen.
Ein wichtiger Faktor für die Leistungsfähigkeit unseres Gehirns ist der Stresslevel, dem wir unterliegen. Mäßiger Stress macht uns konzentriert und aufmerksam. Wenn er hingegen zu viel wird, werden wir vergesslich und unkonzentriert. Sehr starker Stress über lange Zeit schädigt gar das Gehirn. Wer auf sich selbst und die Signale hört, die ihm sein Körper und damit sein Gehirn sendet, kann meist ganz gut einschätzen, was zu viel ist und wie viel Stress er noch ohne Schaden aushält.
Unser Gedächtnis arbeitet schließlich umso besser, je mehr wir es nutzen. Es ist allerdings schnell überlastet. Nur ein Bruchteil unserer Eindrücke schafft es ins Bewusstsein. Dann müssen noch viele Faktoren stimmen, damit wir Fakten langfristig abspeichern. Das sind zum Beispiel neben dem schon genannten ausgewogenen Hormoncocktail und mäßigem Stresslevel auch Interesse, vorhandenes Wissen sowie die richtige Dosis an Informationen.
Warum das Homeoffice uns müde macht
In den letzten Monaten erlebten wir eine digitale Disruption ohnegleichen. Was nie für möglich gehalten wurde, war plötzlich Wirklichkeit: Fast alle Büroarbeitsplätze wurden digital. Doch dabei fanden auch die Grenzen des Homeoffice ihren Ausdruck in dem neu entstandenen Begriff „Zoom-Fatigue“, also „Zoom-Müdigkeit“. Sie beschreibt die Tatsache, dass wir Webmeetings als extrem ermüdend empfinden.
Das Problem liegt darin, dass unser Gehirn in „normaler analoger“ Kommunikation aus der Körpersprache des Gegenübers Informationen sammelt und wir deshalb in einer bestimmten Art und Weise reagieren. Online sehen wir maximal den Oberkörper, oft nur den Kopf unserer Gesprächspartner. Wir hören nicht den Atem, wenn der andere Luft holt, um uns zu unterbrechen. Uns entgeht die Mikromimik. Diese kleinen Muskelbewegungen im Gesicht machen den Unterschied, ob wir ein Lächeln als echtes aufnehmen oder ob es falsch auf uns wirkt. Unser Gehirn versucht während eines Online-Meetings die ganze Zeit, diese nonverbalen Signale zu erkennen – ohne Erfolg. Dafür verbraucht es ziemlich viel Energie. Und das macht müde.
Ein wichtiger Faktor im Homeoffice ist, dass wir meist nicht allein sind. Ob Partner oder zu betreuende Kinder – auch bei optimaler Selbstbeschäftigung und großzügiger Wohnsituation können wir niemals die ganze Konzentration auf das, was vor uns liegt, fokussieren. Unbewusst sind wir immer im Alarmmodus. All das bedeutet für unser Gehirn: Stress.
Statt Kuschelhormone wie Oxytocin auszuschütten, wenn wir uns beim analogen Meeting die Hand geben, sind die Stresshormone Adrenalin und Noradrenalin angesagt. Statt im kurzen Small Talk vor dem Meeting die Atmosphäre und Stimmung der Kolleginnen und Kollegen auszuloten, versucht unser Gehirn, neben der Konzentration auf das Inhaltliche, am Bildschirm alle Teilnehmer im Blick zu haben. Und das, obwohl dort bestenfalls kleine Kacheln von einigen wenigen Anwesenden zu sehen sind. Und so wissen wir auch nach einem langen virtuellen Meeting immer noch nicht, wie es ihnen geht und ob wir unterstützen sollten oder selbst auf Unterstützung hoffen können.
Wie das Smartphone uns zu ineffizientem Multitasking verleitet
Vielleicht haben Sie sich oder Ihre Angehörigen auch schon bei einem relativ neuen Phänomen ertappt: Beim Hantieren mit dem „second screen“. Wenn wir zum Beispiel fernsehen, haben viele nebenher noch ihr Smartphone in der Hand. Einige nehmen an Webmeetings teil und checken gleichzeitig ab und zu wenigstens kurz E-Mails oder WhatsApps. Es gibt ihnen das Gefühl, effizient zu sein. Für das Gehirn heißt das jedoch: Multitasking. Und das funktioniert nicht.
Wenn wir konzentriert und effizient arbeiten wollen, dann geht das nur an einer einzigen Aufgabe. Sobald eine andere dazukommt, sind wir nicht mehr aufmerksam bei der Sache. Das merken Sie spätestens dann, wenn Sie die E-Mail, die Sie während eines Telefongesprächs geschrieben haben, noch einmal senden müssen, weil Sie den Anhang vergessen haben. Gehirngerecht arbeiten bedeutet: Eine Aufgabe nach der anderen erledigen, nicht gleichzeitig.
Warum das Google-Gedächtnis unsere Merkfähigkeit schwinden lässt
Ein großer Vorteil der Digitalisierung und des Internets ist, dass das Wissen dieser Welt ständig und in nie vorstellbarem Ausmaß zur Verfügung steht. Wir müssen einfach nur googeln. Während wir früher auf der Suche nach Antwort in Büchern nachgeschlagen haben, schauen wir jetzt kurz ins Netz. Weil dieser ausgelagerte Teil unseres Gedächtnisses immer verfügbar ist, machen wir uns nicht mehr die Mühe, uns etwas zu merken. Doch das ist fatal.
Denn wer nichts weiß, kann keine Entscheidungen treffen. Der Entscheider muss sich auf sein Umfeld verlassen, dass es ihm die „richtige“ Einschätzung vorgibt. Hier hilft dem Gehirn: Denken Sie bewusst nach, bevor Sie googeln. Sie werden sich an das eine oder andere erinnern, wenn Sie Ihrem Gedächtnis nur die Chance dazu geben. Sprechen Sie miteinander, vielleicht finden Sie gemeinsam die richtige Antwort heraus.
Digitalisierung hat uns viel Segensreiches gebracht, die Welt ohne sie wäre sicherlich ärmer. Nutzen wir einfach beides: die faszinierende digitale Welt und die Freude des analogen Lebens 1.0. Lassen wir unser Gehirn 4.0 das tun, was es am liebsten tut: arbeiten. Mit unseren fünf Sinnen, die unser Gehirn zu einem Gesamtbild verarbeitet. Dem Abbau von Stresshormonen und Anschub der Dopaminproduktion bei Bewegung. Dem haptischen Erlebnis beim Blättern in Lexikon oder Atlas. Merken Sie es? Die Dopaminproduktion läuft schon auf Hochtouren, ganz analog.
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