Digitalisierung
16.09.2021
Algorithmen für die Gesundheit
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Digitale Gesundheitsanwendung für den Bewegungsapparat
Gesundheits-Apps treten als DiGAs aus ihrem Schattendasein. Was unterscheidet sie von herkömmlichen App-Angeboten, die es in der Physiotherapie und in der Fitness bereits gibt? Ein Gespräch mit Dr. med. Markus Klingenberg, der entscheidend an der Entwicklung von Vivira mitgearbeitet hat.
Verschiedene Apps, die vom BfArM, Bundesministerium für Arzneimittel und Medizinprodukte, überprüft wurden, können nun auch von Ärzten verschrieben werden. Parallel sind viele Apps im App Store und via Google Play erhältlich. Vivira ist eine der 19 DiGAs, die in das Verzeichnis des BfArM aufgenommen worden sind und gleichzeitig als App frei zugänglich.
So kann das Unternehmen Vivira Health Lab bereits Anfang 2021 auf die Erfahrung von mehr als 60.000 Nutzer zurückgreifen. Die App bietet eigenständige Übungen zur Bewegungstherapie nach funktionellem Trainingsprinzip bei Rücken- und Gelenkschmerzen an. Ziel ist es, die therapeutische Versorgung bei unspezifischen Rücken-, Knie- und Hüftschmerzen zu verbessern.
Mitentwickelt hat diese App Dr. med. Markus Klingenberg, leitender Arzt der Beta Klinik in Bonn. Als Leiter des Vivira Medical Boards und Buchautor greift der 43-Jährige auf seine jahrelange Erfahrung in der Orthopädie, Sportmedizin und Manuellen Medizin sowie auf mehr als 20 Jahre praktische Erfahrung als Personal Trainer zurück. Regelmäßig bildet er Trainer und Therapeuten in der Rehabilitation von Sportverletzungen aus.
TT-DIGI: Herr Dr. Klingenberg, welcher Kerngedanke steht hinter der DiGA zur Bewegungstherapie?
Markus Klingenberg: Als Erstes soll eine Versorgungslücke verbessert werden. Mit einer DiGA ist es möglich, eine hochwertige, leitliniengerechte Therapie flächendeckend anzubieten. Der Patient kann orts- und zeitunabhängig ein Übungsprogramm auf höchstem Niveau absolvieren. Ein weiterer Vorteil ist, dass diese Therapie das Budget des verordnenden Arztes nicht belastet.
TT-DIGI: Wie ist die freizugängliche App im Vergleich zur DiGA aufgebaut. Gibt es Unterschiede?
Markus Klingenberg: Bei der privaten Nutzung der App wird vor den Übungen ein Screening durchgeführt. Bei der Nutzung über die Verschreibung ist dieses von mir entwickelte Screening noch nicht beinhaltet, weil der Arzt nach einer entsprechenden Diagnose das Programm verschreibt und damit die Therapie vorgibt.
TT-DIGI: Können Sie beschreiben, wie das Screening auf der App funktioniert?
Markus Klingenberg: Das Screening identifiziert funktionelle Defizite. Ein solches liegt vor, wenn grundlegende Bewegungen nicht oder nur mit einer Kompensation durchgeführt werden kann. Zudem fragt das Screening Schmerz bei Bewegung ab. Ein therapeutisches Training sollte schmerzfrei ablaufen. Es sind also zwei Fragen wichtig: „Ist die Ausführung möglich?“ und „Tut es weh?“. Aus den Antworten auf diese beiden Fragen ergeben sich vier Möglichkeiten. Geht + tut nicht weh = normal, geht + tut weh = Schmerz. Dann sollte nicht trainiert werden, denn Schmerz verändert unser Bewegungsmuster. Geht nicht + tut weh = noch schlechter. Das sollte erst recht nicht trainiert werden. Und jetzt kommt der Punkt, an dem wir mit einem Training – auch aus der Ferne – ansetzen können: Geht nicht + tut nicht weh. Hier bin ich in einem Bereich, in dem ich effektiv trainingstherapeutisch arbeiten kann. Kurz: Ich muss Bewegungsprobleme in der Bewegung untersuchen.
TT-DIGI: Welches Alleinstellungsmerkmal hat die App?
Markus Klingenberg: Ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal ist die regelmäßige Abfrage eines Feedbacks. Nach jeder Übung werden dem User zwei Fragen gestellt. a) Hat etwas wehgetan? b) Wie war die Intensität der Übung? Es macht keinen Sinn, einen Patienten mit Schmerzen trainieren zu lassen. Ebenso wenig sollte eine Übung zu leicht oder zu schwer sein.
TT-DIGI: Welchen Sinn hat die Abfrage der Intensität?
Markus Klingenberg: Die richtige Intensität einer Belastung entscheidet über den Erfolg des Trainingsprogramms. Deshalb gibt es zu jeder Übung mehrere Progressionen und Regressionen. Basierend auf diesem Feedback entscheidet der Algorithmus nach jedem Training über eine Anpassung des Trainingsprogramms. Gleichzeitig gebe ich dem User die Möglichkeit, Übungen, die er nicht mag, aus dem Programm herauszunehmen. Schmerzfreie Übungen in der richtigen Intensität, die der User gerne ausführt, sind die Grundlage für ein langfristiges und nachhaltiges Training und damit für eine Schmerzlinderung.
TT-DIGI: Wie unterscheiden sich die DiGAs von vielen anderen Gesundheits-Apps?
Markus Klingenberg: In erster Linie richten sich Fitnessund GesundheitsApps an Gesunde. DiGAs werden speziell für gesundheitliche Probleme entwickelt, bedingen einen wissenschaftlichen Wirksamkeitsnachweis und werden ärztlich verordnet.
TT-DIGI: Und welchen Vorteil bringt die DiGA dem Arzt?
Markus Klingenberg: Für den verschreibenden Arzt schafft die App Transparenz: Er erhält einen detaillierten Anwendungsbericht. Er erkennt auf einen Blick den Umfang der App-Nutzung und die erzielten Erfolge.
TT-DIGI: Sie wurden schon oft gefragt, ob die DiGA eine Physiotherapie ersetzen kann ...
Markus Klingenberg: Ja, das wurde ich schon oft gefragt. Physiotherapie ist mehr als Training. Das Training ist nur ein kleines Stück aus dem gesamten Kuchen therapeutischer Maßnahmen.
TT-DIGI: Wie kann eine App den Patienten zur Nutzung motivieren?
Markus Klingenberg: Entscheidend für die Motivation ist ein Rückgang der Beschwerden und ein spielerischer Charakter der Anwendung. Diese Gamification ist ganz ausschlaggebend, um das Bewegungsverhalten eines Patienten langfristig zu verbessern. Es geht in der Bewegungstherapie ganz häufig um Motivation!
TT-DIGI: Was fasziniert Sie an der digitalen Entwicklung?
Markus Klingenberg: Die Stärken der Algorithmen. Wir konnten, bevor wir die Zulassung beantragt haben, auf knapp 50.000 Nutzerdaten zurückgreifen und diese auswerten. Die Nutzerdaten zeigen, ob man ein Gewinnerprogramm entwickelt hat oder nicht. Der Markt entscheidet. Wenn ich es schaffe, ein Programm zu entwickeln, mit dem der Patient einen schnellstmöglichen Nutzen verspürt, dann wird der Markt das auch entsprechend belohnen.
Das Interview führte Reinhild Karasek.
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