Ernährung & Gesundheit
20.05.2024
„Sitzen ist das neue Rauchen“
Kampf dem Sitzen – die gesundheitlichen Risiken von zu viel und zu lang
Wir sitzen – tagaus, tagein, in der Schule, im Büro, auf dem Sofa, in den Bahnen, im Bus, im Auto – auch auf dem Sattel beim Fahrradfahren. Wir sitzen einfach zu viel! Wir sind eine sitzende Gesellschaft – und das nicht nur im Büro! Aber was machen wir dagegen?
Während der Pandemie hat die Dauer des Sitzens im Homeoffice sogar noch zugenommen – deshalb sind kurzzeitige Sitzunterbrechungen, in denen wir gehen, so wichtig. Und wie sieht denn unser Freizeitverhalten aus? Mit den digitalen Medien hat sich das Sitzen noch weiter etabliert. Die angenehmen Möglichkeiten von Streamingdiensten und Games auf dem Smartphone fördern auch nicht das Stehen oder Gehen.
Die Sachlage ist eindeutig
Bereits 2013 schrieb Till Raether im SZ-Magazin über die „Anti-Sitz-Bewegung“. Er beschreibt den Traum von James A. Levine von der Mayo Clinic in Scottsdale, Arizona, der darin bestehe, „dass alle Amerikaner eines Tages während der Büroarbeit auf dem Laufband gehen.“ James A. Levine wird der populäre Slogan „Sitzen ist das neue Rauchen“ zugeschrieben. Ariane Reimer, Manager Corporate Health & Fitness bei Brainlab AG, führt das näher aus: „Der Autor dieses pro - vokanten Slogans ist Dr. James Levin, Leiter des Obesity-Solutions-Projects an der Arizona State University. Er behauptet, dass uns das viele Sitzen wertvolle Lebenszeit – 2 Lebensstunden pro gesessene Stunde – kostet und damit noch gefährlicher als Rauchen ist, was die Lebenszeit um etwa 12 Minuten pro Zigarette verringert.“
Inzwischen gibt es zahlreiche Bücher und Studien zu diesem Thema. So gibt beispielsweise Physiotherapeutin Ulrike Maier in ihrem Buch „Sitzkiller“ von 2019 Tipps, wie Sitzen zu vermeiden ist. Die Titel sind oft griffig, wie der Vortrag von Prof. Dr. habil. Bernhard Elsner, Studiengangsleiter im Bachelor-Studiengang Physiotherapie am Campus Gera zum 2. Gesundheitsdenkertag am 27. April 2022: „Wer länger sitzt, ist früher tot“.
Wissenschaftlich gesehen wird das Sterberisiko des langen inaktiven Sitzens hervorgehoben. So wurden gleich zu Wir sitzen – tagaus, tagein, in der Schule, im Büro, auf dem Sofa, in den Bahnen, im Bus, im Auto – auch auf dem Sattel beim Fahrradfahren. Wir sitzen einfach zu viel! Wir sind eine sitzende Gesellschaft – und das nicht nur im Büro! Aber was machen wir dagegen? Kampf dem Sitzen – die gesundheitlichen Risiken von zu viel und zu lang ››› ERNÄHRUNG & GESUNDHEIT ››› 94 TRAINING TRAINING • THERAPIE THERAPIE & DIGITALISIERUNG DIGITALISIERUNG „Sitzen ist das neue Rauchen“ ©shutterstock.com_1060803278 Beginn des Jahres 2024 – mehr als 10 Jahre nach der Anti-Sitz-Bewegung – nochmals die Risiken in Publikationen unterstrichen. Nicola SiegmundSchultze beruft sich im Januar 2024 in univadis auf eine Kohortenstudie aus Taiwan mit mehr als 481.000 Teilnehmern über einen Erfassungszeitraum von 20 Jahren, die eine sitzende Tätigkeit mit einem 34-%-igen Risikozuwachs einer kardiovaskulären Sterblichkeit assoziiert. Die Autorin: „Das Hauptergebnis der Studie: Viel Sitzen verkürzt die durchschnittliche Lebenszeit.“ Allerdings könnte eine körperliche Aktivität über 15 – 30 Minuten mittlerer Intensität täglich die erhöhten Risiken kompensieren, so Nicola Siegmund-Schultze.
Die Gefahren des langen Sitzens
Hans-Peter Huber, Geschäftsführer von Mediana GmbH Zentrum für Physiotherapie & Training mit drei Standorten in Stephanskirchen, Rosenheim und Prien am Chiemsee beschreibt die Gefahren wie folgt: „Wir ver - fügen über einen Körperbau, der einst für Jäger und Sammler angedacht war. Demnach ist unser heutiges Anforderungsprofil des Alltages – 80% aller Arbeitsplätze sind Bildschirmarbeitsplätze, die durchschnittliche Zeit, die wir täglich im Sitzen verbringen, beträgt 8 Stunden und mehr – quasi „Gift“ für unseren Körper. Unsere Funktionssysteme folgen dem Prinzip ‚Use it or loose it‘.“ Die gesundheitlichen Folgen sind vielfältig.
Neben Diabetes, Herzerkrankung und gar Krebs wirkt sich das zu lange und zu viele Sitzen besonders auf den Bewegungsapparat aus. Hans-Peter Huber: „Die Folgen des langen Sitzens und der damit einhergehenden einseitigen bzw. gekrümmten Körperhaltung sind neben einer abgeschwächten Muskulatur vor allem verkürzte Strukturen insbesondere der vorderen Muskelund Faszienkette. Dies führt dauerhaft fast unweigerlich zu Schmerzsyndromen im Rücken und Schulternackenbereich, die nicht selten Bandscheibenvorfälle zur Folge haben können.“ Dem entgegenwirken könne man durch die Öffnung der vorderen Muskel- und Faszienkette und einer Kräftigung der aufrichtenden Muskulatur.
Weshalb dies so wichtig ist, verdeutlichen verschiedene Statistiken, zum Beispiel die des Dachverbands der Betriebskrankenkassen. Demzufolge rangieren die Muskel- und Skeletterkrankungen ganz weit oben mit 19,3% hinsichtlich der Krankheitstage 2022 – nach Krankheiten des Atmungssystems (21,8%) und den akkumulierten sonstigen Ursachen (19,8%). Der Gesundheitsreport 2023 der Techniker Krankenkasse bestätigt dies sowie die Zahlen der DAK. Die Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems liegen hier nach den Krankheiten des Atmungssystems an zweiter Stelle.
Kann Bewegung und Sport das ausgleichen?
Ganz aktuell hat sich am 16. April 2024 das SZ Magazin Gesundheit wieder diesem Thema zugewandt mit einem Interview. Frederik Jötten sprach mit der Medizinerin Carmen Jochem, die die Analogie zum Rauchen in „Sitzen ist das neue Rauchen“ darin sieht, dass man das Verhalten abstellen könne. Sie empfiehlt, mit kleinen Ritualen mehr in Bewegung zu kommen. Beispielsweise im Stehen oder Gehen zu telefonieren oder statt einer E-Mail an den Kollegen zu senden, sich selbst auf den Weg zu machen und in dessen Büro mal vorbeizuschauen. Es sind diese kleine Sitzunterbrechungen, die guttun. Denn auch die höhenverstellbaren Schreibtische allein sind es nicht. Carmen Jochem: „Ein häufiger Wechsel der Positionen ist das Optimum.“
Ob regelmäßiger Sport hilft, lässt sich allerdings so nicht eindeutig nachweisen. Doch allen gemeinsam ist die Erkenntnis, dass wir weniger sitzen und langes Sitzen öfter unterbrechen sollten. „Alle 30 Minuten ein kleines Stretching oder ein höhen - verstellbarer Schreibtisch, den wir teils im Stehen, teils im Sitzen benutzen können, wären zwei einfache Lösungen. Umhergehen beim Telefonieren gehört genauso dazu, wie das Abhalten von Meetings im Stehen.“, so auch die Empfehlung von Dieter Petereit in t3n in seinem Artikel „Sitzen erhöht das Sterberisiko: Neue Studie zeigt wie sehr“ vom 17. März 2024.
Lieber mehr als weniger
Der Aufruf, uns mehr zu bewegen, sollte uns alle erreichen, denn die Stiftung deutsche Schlaganfall-Hilfe veröffentlichte in einer Pressemeldung vom 10. April 2024 das Ergebnis eines Gesundheitschecks unter 1.525 Mitarbeitern aus Unternehmen und Behörden: „94 Prozent der Teilnehmenden glaubten, dass sie sich ausreichend viel bewegen. Das sieht die Weltgesundheitsorganisation (WHO) anders. Laut WHO-Gesundheitsreport erreichen mehr als 40 Prozent der Deutschen nicht die Minimalempfehlungen.“
Klaus Clasing, Sportwissenschaftler und Gesundheitsberater im Auftrag der Stiftung Deutsche SchlaganfallHilfe fasst auf seine Weise die Er - gebnisse des Checks ernüchternd zusammen: „Viele Teilnehmer schätzen ihre körperliche Aktivität völlig falsch ein“, und fährt fort: „Bei Untersuchungen am Arbeitsplatz entdecken wir immer viele Menschen, die nichts von ihrem Herz-KreislaufRisiko wissen. Deshalb ist betriebliches Gesundheitsmanagement so wichtig.“ Eine Aufklärung des richtigen Verhältnisses von Sitzen und Sitzpausen während der Arbeit, aber auch in der Freizeit könnte hier schon präventiv einsetzen.
Reinhild Karasek
Bild: ©shutterstock.com_1060803278
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