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17.05.2022

Klettern für die Gesundheit

Klettern für die Gesundheit

Neue Wege in der Prävention und Therapie

Die Zunahme der Arbeitsunfähigkeit aufgrund psychischer Erkrankungen (ICD-10 F00-F99) ist die auffälligste Entwicklung im Arbeitsunfähigkeitsgeschehen der letzten Jahre und Jahrzehnte. Hier ganzheitlich therapeutisch oder noch besser präventiv anzusetzen ist demnach von immer größer
werdender Bedeutung.

Im Zeitraum von 1997 bis 2020 haben die Arbeitsunfähigkeitsfälle aufgrund psychischer Erkrankungen in Deutschland unter Frauen um 171 Prozent und unter Männern um 166 Prozent zugenommen. Somit sind psychische Erkrankungen auf Platz 2 aller Arbeitsunfähigkeiten im Beruf gestiegen. Darüber hinaus gaben im Jahr 2021 im Global Consumer Survey 31 Prozent der Befragten an, unter psychischen Beschwerden – unter anderem Depressionen und Angstzustände – zu leiden.

Neben Muskel-Skelett- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind psychische Erkrankungen somit ein zentraler Faktor im Kontext der Gesundheitsintervention. Bereits seit 2017 geht das Universitätsklinikum Erlangen bei psychischen Erkrankungen neue Wege und hat mit der Studie KuS (Klettern und Stimmung) evaluiert, wie man durch Sport – insbesondere durch Bouldern – Depressionen entgegenwirken kann. Dabei stellt Bouldern eine spezielle Form des Kletterns dar, bei der man in geringen Höhen und demnach ohne Sicherung in Kletterhallen oder Kletterparks aktiv ist.

Therapeutischer Ansatz bei psychischen Erkrankungen

In Deutschland leiden etwa zehn Prozent der Menschen unter depressiven Symptomen. Bei circa 15 Prozent aller Frauen und bei acht Prozent aller Männer wird im Laufe ihres Lebens eine Depression diagnostiziert. Aus der Abwärtsspirale, die typisch für eine Depression ist, kommen die Betroffenen ohne therapeutische Begleitung nicht heraus.

Insbesondere bei psychischen Erkrankungen und speziell bei Depressionen, kann Bouldern eine geeignete therapeutische Intervention sein, die neben der Gabe von Medikamenten sehr erfolgversprechend ist und sogar so weit führt, dass Patienten mit mittelschwerer Symptomatik dauerhaft ohne Medikamente auskommen können. Vor dem Hintergrund eines kontinuierlich ansteigenden Konsums an rezeptfreien Mitteln gegen depressive Verstimmungen, kommt diesem Ansatz – neben Gesprächs- und Verhaltenstherapie – eine besondere Bedeutung zu.

Dass Sport gesund ist, ist mittlerweile bei Muskel-Skelett-, Stoffwechsel- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen wissen schaftlich belegt. Und auch bei psychischen Erkrankungen lassen sich inzwischen ausreichend Studien finden, die auf eine positive Wirkung hindeuten.

Bouldern für die Seele

Speziell beim Bouldern kommen viele Faktoren zusammen, die sich positiv auf die psychische Gesundheit auswirken können. So muss man sich während des Aufenthalts in der Wand sehr stark konzentrieren, die Außenwelt nahezu vergessen und sich absolut auf das Hier und Jetzt fokussieren. Für Grübelschleifen – einem Symptom von Depressionen – ist dabei kein Platz.

So ist Bouldern für Menschen mit Depressionen deshalb oft besser geeignet als beispielsweise Ausdauersportarten wie Joggen oder Schwimmen, bei denen das Nachdenken über Vergangenes oder die Zukunft häufig weitergeht. Zudem ruft die körperliche Bewegung unweigerlich Emotionen hervor: etwa Angst vor der Höhe und vor dem Fallen oder Stolz und Freude beim Abschluss einer Route. Für Menschen mit Depressionen, die ihre Innen- und Gefühlswelt oft als leer wahrnehmen, sind diese Erfahrungen besonders wertvoll.

Ein weiterer Vorteil des Boulderns: Vorkenntnisse sind nicht nötig und auch das Alter sowie die eigene körperliche Konstitution spielen kaum eine Rolle. Daher ist Bouldern bestens als Gruppensport geeignet. Für Menschen, die aufgrund ihrer Depression soziale Kontakte oft meiden oder ganz aufgeben, wirkt sich die Gemeinschaftserfahrung positiv aus. Dabei geht es nicht um einen Leistungsvergleich innerhalb der Gruppe, sondern darum, Erfahrungen zu sammeln und auch zu lernen, sich mitzuteilen und Hilfe anzunehmen.

Und so lassen sich viele Vergleiche zwischen Bouldern und dem Leben ziehen. Bei beiden ist man mit Herausforderungen konfrontiert, lernt seine Grenzen kennen, muss Strategien entwickeln, kann über sich hinauswachsen und vom Wissen anderer profitieren – oder seine eigenen Wege gehen. Auch der Umgang mit Fort- und Rückschritten gehört dazu. Die Teilnehmer der Boulder-Therapie erfahren selbstwirksam zu handeln und erleben soziale Interaktionen.

Präventiver Ansatz bei vielen Volkskrankheiten

Neben der Erfolg versprechenden therapeutischen Wirkung bei psychischen Erkrankungen kann Klettern aber auch einen positiven Beitrag in der Vermeidung zivilisationsbedingter Krankheiten und somit zur Prävention leisten. Insbesondere Muskel-Skelett- bzw. Herz-KreislaufErkrankungen sind hier angesprochen. So wirkt sich Bouldersport vor allem auf die Kraft und somit positiv auf den aktiven und passiven Bewegungsapparat aus. Darin waren sich im Jahr 2020 etwa 89 Prozent der Befragten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz einig. Neben dem Kraftzuwachs bemerkten außerdem viele Boulderer eine Verbesserung ihrer Koordination und Körperhaltung.

Zudem lässt sich der wohltuende Aspekt der Entspannung durch Anspannung bei knapp der Hälfte aller Bouldersportler messen, was dann unmittelbar auch zur Stressreduktion und im Endeffekt auf die Reduzierung von Risikofaktoren für Rücken- bzw. Herz-Kreislauf-Beschwerden führt.

Überträgt man diese Erkenntnisse auf das gesicherte Outdoor-Klettern, bei dem noch frische Luft, Sonne, schöne Naturerlebnisse und möglicherweise ausgedehnte Wanderungen zum Klettersteig hinzukommen, wird die ganzheitliche Wirkung des Kletterns noch deutlicher.

Christian Kunert


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